LIVENET.CH - 02.03.2003, 12:49

"Kein Mensch will glauben, dass diese Dinge wirklich geschehen"

Steffis Stimme zittert. "Man stirbt, wenn man spricht. Es wird einem solche Angst gemacht. Man glaubt, dass der Teufel einen holen wird", sagte die junge Frau im Januar in einer ZDF-Reportage über organisierte Ritualmorde im satanistischen Umfeld. Steffi ist genauso ein Opfer ritueller Gewalt wie Marie, die in der Sendung mit ärztlichen Attesten schwerste körperliche Verletzungen aus ihrer Kindheit nachwies. Die Kasseler Psychotherapeutin Michaela Huber arbeitet seit vielen Jahren mit Frauen wie Steffi und Marie.

 

Immer mehr brechen ihr Schweigegebot
"Kein Mensch will glauben, dass diese Dinge wirklich geschehen", sagt sie. Doch inzwischen fänden sich immer mehr Überlebende, die ihr Schweigegebot brechen und Hilfe suchen. Was vor Jahren noch extreme Einzelfälle zu sein schienen, gehöre inzwischen in traumatherapeutischen Praxen und Kliniken sowie in Beratungsstellen gegen sexuelle Gewalt zum harten Alltag. Bei einer Umfrage unter 300 ausgewählten Einrichtungen wurden laut Huber 354 Fälle detailliert geschildert.

Der Weltanschauungsbeauftragte in der hannoverschen Landeskirche, Ingolf Christiansen aus Göttingen, sagt, dass die Verbindung von Satanismus und sexueller Gewalt seit einiger Zeit Besorgnis erregend zunehme. Während er früher einen Fall pro Jahr erlebt habe, seien es jetzt bis zu 20. Konkretere Zahlen gibt es noch nicht. Experten schätzen, dass nur jeder zehnten Frau der Ausstieg gelingt. Es könnten jedoch viel mehr werden, wenn man sie in Opfer- und Zeugenschutzprogramme aufnehme und ihnen die Kronzeugenregelung ermöglichte.

Einig sind sich die Fachleute auch darin, dass der okkulte Rahmen die Opfer einschüchtern und ihr Selbstwertgefühl zerstören soll. Tatsächlich gehe es den Tätern aber um das knallharte Geschäft von Prostitution und Pornografie. "Gewalttätige Gruppen aus der organisierten Kriminalität verstecken sich hinter pseudo-religiösem Brimborium", betont Huber. Die Gewinn bringende Produktion von Porno- und Snuff-Videos, in denen reale Folter gefilmt werde, sei der eigentliche Zweck der Rituale.

Die Opfer werden körperlich, sexuell und psychisch schwer misshandelt und gefügig gemacht. "Die Ersttäter kommen fast immer aus dem Familien- oder Freundeskreis und reichen ihre Opfer dann weiter", sagt Huber. Die Frauen und Kinder würden regelrecht abgerichtet und manchmal selbst zu Tätern gemacht. "Ihr Urvertrauen wird systematisch zerstört", bestätigt Christiansen, der häufig als Gutachter bei Strafverfahren mit okkultem Hintergrund tätig ist: "Es wird ihnen suggeriert, dass noch nicht einmal Gott ihnen ihre Sünden vergeben wird."

 

Wahrnehmung verzerrt sich
Die Frauen, die es schaffen, aus diesem Teufelskreis auszubrechen, sind Huber zufolge oft selbst die größten Skeptiker ihrer Erinnerungen: "Die Wahrnehmungen eines Menschen, der gefoltert, verwirrt, unter Drogen gesetzt und terrorisiert wurde, müssen verzerrt sein." Manche Opfer hätten charakteristische Folternarben am Rücken oder an den Handgelenken. Dies gelte besonders für ältere Überlebende: "Einige sind von Narben übersät, ihre Knochen wurden viele Male gebrochen, im Genitalbereich sind sie extrem verstümmelt."

Beim Erinnern gerieten sie in starke Schmerzzustände, schwere Depressionen und massive Ängste, weiß auch Ursula Scheele vom Bundesverband Autonomer Frauennotrufe in Kiel. Die Lebensberaterin arbeitet seit 14 Jahren mit derartig traumatisierten Frauen. Ihre Geschichten seien real und beweisbar und oft von einer Detailgenauigkeit, die sich niemand ausdenken könne: "Die Frauen schildern Szenen, die man bei jedem Spielfilm schnell wegzappen würde."

Die Psychotherapien mit Menschen, die so gequält und gefoltert wurden, brauchen sehr viel Zeit und Geduld, betont Huber: "Nur wer die Chance bekommt, seine Erinnerungen wirklich zu verarbeiten und in seine Biografie zu integrieren, kann ein Leben ohne quälende Schmerzen und ständige Bedrohungsgefühle führen."

Die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Renate Rennebach aus Berlin gründet zurzeit eine Stiftung für Überlebende ritueller Gewalt. Als Sektenbeauftragte ihrer Fraktion beschäftigt sie sich seit Jahren mit dem Thema: "Es besteht akuter Handlungsbedarf", sagt die engagierte Christin, die Aussteigerinnen selbst betreut: "Viele erhalten keine Hilfe, weil kaum jemand diese Gräueltaten glauben will."

 

Internet fördert Okkultismus
Okkultes breitet sich Sektenexperten zufolge durch das Internet immer stärker in der Gesellschaft aus. "Vor allem junge Menschen laden sich die angebotenen Rituale herunter - etwa, wie man missliebige Kollegen verflucht oder Kontakt mit Verstorbenen aufnimmt", sagt der Beauftragte der bayerischen evangelischen Landeskirche für religiöse Strömungen, Bernhard Wolf.

Die Foren für Okkultismus, Satanismus und magische Rituale hätten sich im zurück liegenden Jahr stark vermehrt, so der Okkultismusexperte. Gerade von jungen Menschen würden die Gefahren, die im Internet lauern, häufig krass unterschätzt. Wer sich solcher Praktiken bediene, lande nicht selten in der Psychiatrie. Als besondere Schwerpunktregionen für den Okkultismus nannte Wolf die Bundesländer Sachsen und Thüringen.


 


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